Vorwort für Eltern und Pädagogen
Ein Beitrag und eine Geschichte von Anne Lübke, Erzieherin und Fachkraft für Sprache
Einleitung
Ich habe eine Geschichte geschrieben, in der die Corona-Krise für Kinder nachvollziehbar aufgenommen wird. Mir war wichtig, nicht die Krankheit in den Vordergrund zu stellen, sondern die Gefühle und die Kreativität in den Mittelpunkt zu rücken. Absichtlich ist die Hauptperson, die kleine Feldmaus Tibi, ein Einzelkind.
Vielfalt, Partizipation, Zusammenhalt, Rücksichtnahme und vieles mehr wird angesprochen.
Am Ende der Geschichte soll Raum für Dialog und Reflexion der eigenen Geschichte in den Wochen Zuhause gegeben werden.
Nach dem Vorlesen der Geschichte können die Kinder Bilder malen, die zu dem Text gelegt oder gebunden werden können. So könnte ein eigenes, kleines Buch entstehen.
Anregungen zur Geschichte
Diese Geschichte ist absichtlich nicht abgeschlossen, sie hat ein offenes Ende.
Wichtig ist mir, dass zusammen mit den Kindern überlegt werden kann, wie und auf welche Weise ein großes Fest auf der Wiese gefeiert wird. Diese Fragen könnten gestellt werden:
- Wer bereitet das Fest vor?
- Wer ist eingeladen?
- Wie wird die Wiese geschmückt?
- Welches Essen könnte vorbereitet werden?
- Welche Spiele könnten sich die Tierkinder ausdenken?
- Was könnten die Tiere, die krank waren, berichten?
- Was hat euch am besten an der Geschichte gefallen?
- Was habt ihr gemalt?
- Was habt ihr erlebt, als ihr lange zu Hause sein musstet?
- Was würdet ihr der kleinen Feldmaus Tibi gerne sagen?
Illustration: Carmen A.M. Windt
Tibi und die Wolken über dem Paradies
Eine Geschichte von Anne Lübke
Hallo, ich bin Tibi, die kleine Feldmaus.
Ich wohne auf einer wunderschönen, großen Wiese, die ganz weit weg von der großen, lauten Stadt liegt. Vielleicht wart ihr ja schon einmal dort. Mama und Papa sagen immer, wir leben im Paradies. Wisst ihr, ein Paradies ist ein herrlicher Ort, wo man alles be- kommt, was man braucht, wo man sich wohl fühlt, glücklich ist und nie mehr weg möchte. Ich kann euch ja mein Zuhause beschreiben:
Auf dieser grünen Wiese blühen unendlich viele Blumen. Ich habe einmal angefangen, sie zu zählen, aber ich komme immer wieder durcheinander und so viele Zahlen kenne ich überhaupt nicht. Aber dafür kenne ich Blumennamen, die hat mir meine Oma alle beige- bracht. Es wachsen Gänseblümchen – meine absoluten Lieblingsblumen – Löwenzahn, Mohn, Klee, den mein bester Freund, das Kaninchen gerne frisst, Anemonen, Lupinen, Tulpen, Kresse, Margeriten, ach, so viele.
Nicht nur Blumen sind hier, sondern auch Tiere. Von meinem Freund, dem Kaninchen Kessi, habe ich euch ja schon erzählt. Der wohnt ganz in meiner Nähe mit seiner Mama, seinem Papa und fünf Geschwistern. Natürlich habe ich auch andere Freunde. Mein Opa sagt immer: “Freunde sind wichtig. Mit Freunden kann man lachen, Abenteuer erleben, Freunde halten zusammen, helfen sich und bei Freunden kann man ja auch mal traurig sein. Die können einen dann trösten.“
Igel, Schnecken, Vögel, Grashüpfer, Hummeln, Bienen, Regenwürmer, all diese Tiere und noch mehr leben mit uns auf der Wiese und obwohl wir alle unterschiedlich aussehen, uns unterschiedlich fortbewegen und alle etwas anderes fressen, verstehen wir uns gut. Wir sind wirklich wie im Paradies, meine Oma hat recht.
Wisst ihr, was das Beste ist? Dass wir Tierkinder uns jeden Tag treffen, denn in der Mitte der großen Wiese liegt unser Tierkinder- garten. Da haben wir Zeit zum Spielen. Am allerliebsten spielen wir Verstecken. Das können die Ameisen besonders gut, weil sie klein sind. Die Regenwürmer dürfen sich aber nicht in die Erde graben, das wäre gemein. Da würden wir sie ja nie finden. Die Vögel dürfen auch nicht wegfliegen, auch das wäre gegen die Regel. Die Regeln haben wir gemeinsam mit Hops aufgestellt, das ist unser Erzieher, ein Hase, der auf uns aufpasst. Hops hat immer ganz tolle Ideen.
Einmal haben wir das Blumenspiel gespielt. Wir sind alle schnell zu den roten Mohnblumen gehüpft, gekrochen, geflogen, gerannt. Aber auch auf der Wiese liegen und Wolkenbilder beschreiben ist herrlich! Ich habe einmal eine Wolke gesehen, die sah wirklich so aus wie ein Rasenmäher. Da habe ich den anderen aber einen Schrecken eingejagt. Die haben wirklich Angst gekriegt, denn so ein Rasenmäher ist gefährlich für uns. Der schneidet alle Grashalme ab und kann uns dabei ganz doll verletzen.
Vor einer Weile, es war ein traumhafter Tag, denn der Himmel war blau, die Sonne schien und wir machten gerade Musik im Kinder- garten, da geschah etwas komisches. Die Bienchen summten, die Grillen zirpten, die Vögel zwitscherten, die Luft roch nach Nektar und die Bäume im Wald hinter der Wiese rauschten, als die Kaninchenmama von meinem besten Freund Kessi atemlos zum Kindergarten gehoppelt kam. So schnell habe ich sie noch nie rennen gesehen. Sie flitzte zu unserem Erzieher Hops und flüsterte ihm was in das lange Hasenohr. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie ernst Hops auf einmal geguckt hat. Er sah auch ganz traurig aus. Dann rannte die Kaninchenmama wieder weg. Mein Freund Kessi starrte seiner Mama hinterher. Bewegungslos hockte er da, und das kenne ich gar nicht von ihm. Ihr müsst wissen, dass Kessi eigentlich immer hin- und herspringt, ja, er hüpft nicht nur vor Freude, sondern auch, wenn er etwas erzählt, wenn er mit uns Wolken anguckt. Nur wenn er sein Futter mümmelt, dann sitzt er still. Und jetzt. Nicht mal ein Schnurrbarthaar bewegte sich.
Unser Erzieher Hops rief alle Tierkinder zusammen. Dann begann er zu erzählen: “Liebe Kinder, nicht weit von hier, im Wald, leben die Waldmäuse. Eine Maus hat von einer giftigen Pflanze gefres- sen und ist sehr krank geworden. Leider hat sie sehr viele andere Mäuse mit dieser Krankheit angesteckt. Auch einige Häschen, die in den Wald gehoppelt sind, haben sich angesteckt und liegen nun krank in ihrem Blätterbett. Ameisen aus dem Wald krabbeln ja auch über unsere Wiese. Daher kommt es, dass auch schon der Maulwurf und die Schnecken sich unwohl fühlen. Das gab es noch nie bei uns, aber diese ansteckende Krankheit kann jedes Tier hier be- kommen. Der Kopf tut dann weh, die Beinchen sind müde, das Futter schmeckt nicht mehr.
Weil wir nun verhindern müssen, dass sich diese Krankheit weiter ausbreitet, könnt ihr hier nicht mehr zusammenspielen.
Lauft, krabbelt, fliegt, hüpft und hoppelt zu euren Eltern und bleibt so lange zuhause, bis die Kranken wieder gesund sind und keinen mehr anstecken können. So könnt ihr euch nicht anstecken.“
Mir taten alle Kranken leid, drum fragte ich: „Werden denn die kranken Tiere alle wieder gesund?“ „Ja“, sagte Hops, „aber das dauert einige Zeit.“
Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für ein Piepen, Reden, Rufen, Summen, Brummen, Plappern war. Alle sprachen durcheinander. Dann flitzte jeder nach Hause. Unsere Mamas, Papas, Omas und Opas wussten schon Bescheid.
Die nächsten Tage waren ganz komisch. Ich sollte nicht raus zum Spielen gehen, konnte mich nicht mit Freunden verabreden. Am Anfang war das noch in Ordnung. Ich räumte meine Höhle auf, spielte mit den Nüssen und Samen, ich guckte zum Himmel, aber ganz alleine Wolken ansehen macht keinen Spaß. Mama und Papa erzählten mir viele Geschichten und Oma und Opa zeigten mir ein paar Tanzschritte, denn Arm in Arm tanzen sie jeden Abend im Mondschein. Aber ich vermisste so sehr meinen Freund Kessi.
Mit jedem Tag wurde ich trauriger. Mama und Papa nahmen mich oft in den Arm und meinten: „Tibi, wir verstehen, dass du deine Freunde und das Spielen auf der Wiese vermisst. Das ist nicht einfach für uns alle. Lass uns etwas Schönes machen. Guck mal, wir haben Saft aus verschiedenen Pflanzen ausgepresst. Mit dem kannst du auf die großen Steine Bilder malen. Tauch diese Gräser ein und bringe damit die verschiedenen Farben auf die Steine.“
Könnt ihr euch vorstellen, was das für ein großer Spaß war. Erst habe ich Striche gemalt, dann Wolken, meine eigenen Wolkenbilder, eines sah aus wie ein Rasenmäher, ich habe eine Sonne gemalt und ein Kaninchen. Das soll mein Freund Kessi sein. Was er wohl gerade macht? Mir kam ein Gedanke: Diesen Stein schenke ich ihm. Kessi wird sich freuen, wenn ich ihn wiedersehe. Opa hat recht: Freunde sind wichtig!
Nach einigen Tagen wurde ich aber wieder traurig. Die Pflanzensaftfarben waren alle. Kessi kann jetzt bestimmt mit seinen Geschwistern spielen. Ich habe keine Schwester und keinen Bruder. Wütend trat ich gegen meine Höhle.
Ich fragte Papa: „Wie lange dauert das denn noch? Ich möchte endlich wieder über die Wiese laufen.“ Papa setzte sich neben mich, kitzelte mich mit seinem Mauseschwanz und sagte: „Ich habe von der Elster, dem schwarz-weißen Vogel, gehört, dass alle Waldmäuse, die krank waren, wieder gesund geworden sind. Trotzdem müssen wir noch einige Tage hier in der Höhle bleiben.“
„Ach, was ist nur aus unserem Paradies geworden?“, fragte ich mich. Plötzlich klopfte es draußen am Höhleneingang. Eine Amsel, das ist ein schwarzer Vogel, stand draußen und hatte etwas in sei- nem gelben Schnabel. Ein aus Gänseblümchen gebundener Blumenkranz und einen Zettel daran legte sie mir vor meine Mäuse- beine. „Von deinem Freund Kessi. Ich hab dich lieb“ stand drauf.
Könnt ihr euch vorstellen, wie ich mich da gefühlt habe? Mein Freund hat aus meinen Lieblingsblumen einen Kranz für mich ge- macht. Ich strahlte über das ganze Gesicht. Da fiel mir was ein: „Warte, liebe Amsel, ich hole schnell etwas für Kessi.“
Ich holte den Stein mit dem Kaninchen hervor, legte ihn dem Vogel in den Schnabel und sah der Amsel hinterher, wie sie zum Kaninchenbau flog.
Auf diese Weise bekam ich jeden Tag Post von Kessi. Die Zeit ging so ganz schnell vorbei, denn jeden Tag dachte ich mir eine neue Überraschung aus. Von Kessi bekam ich wunderbare Geschenke: Ein gepresstes Blatt, ein Sandbild, sogar eines von seinen langen Schnurrbarthaaren und vieles mehr.
Eines Tages kamen Mama und Papa zu mir in die Höhle. Ich war gerade dabei, mir ein neues Geschenk für Kessi auszudenken, da standen sie vor mir. Sie nahmen mich in die Arme und wirbelten mich herum. „Es ist soweit, Tibi, wir können wieder auf die Wiese, in unser Paradies.
„Juchhu! Endlich! Wie ich mich freue!“, rief ich. Ich gab Mama und Papa einen Kuss und rannte los. Ihr könnt euch sicher denken, wo ich hinlief. Genau, zu Kessi. Kessi musste den gleichen Gedanken gehabt haben, denn er kam mir entgegengehoppelt. Wir fielen uns in die Arme und drückten uns ganz doll.
Es gab so viel zu erzählen. Auch die anderen Tierkinder versammelten sich auf der Wiese. Wir berichteten uns, was wir alles in den letzten Tagen erlebt haben, wie wir uns gefühlt haben, was schön war aber auch, was uns schwerfiel.
Wir saßen bis zum Sonnenuntergang zusammen und haben etwas geplant. Ein Fest! Wir möchten unser Paradies feiern, und wir möchten uns feiern. Wir möchten feiern, dass wir uns alle wieder- haben. Alle machten mit. Es wurde ein Riesenfest.
Die Vögel, die Mäuse, auch die Waldmäuse waren eingeladen, die Grashüpfer, die Hummeln, die Käfer, die Bienen, die Schnecken, die Maulwürfe, die Hasen, die Kaninchen, einfach alle kamen zum Fest.
Was meint ihr, was wir alles auf dem Fest gemacht haben?
ACHTUNG: Die Geschichte ist mittlerweile mit hübschen Illustrationen von Carmen A.M. Windt unterlegt worden. Schaut euch die aktuelle Version unbedingt in der PDF-Datei an!
Anne hat diese Geschichte für Kinder, Erzieherinnen und Familien geschrieben und uns netterweise zur Verfügung gestellt. Ihr könnt euch die Geschichte von Tibi ehr gern ausdrucken, vorlesen oder auch weitergeben. So können viele Kinder davon profitieren. Vielleicht gibt es schon bald eine weitere Geschichte von Anne. Schaut einfach nochmal auf Kitakram.de vorbei.